Warum jede Stimme zählt

Karlsruher Stimmen I Demokratie und Menschenrechte im Gespräch

Beatrice-Charlotte Wurm über „Schicksalswahlen“, eine Rhetorik des Ausschlusses und die Gefahr, sich in Systemen einzurichten

Zur Person

Beatrice-Charlotte Wurm, Projektleiterin, Publizistin und Dozentin aus Karlsruhe, wurde in Israel geboren und wuchs in Heidelberg sowie nahe New York auf. Nach ihrem Studium der Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft in Heidelberg und Berlin arbeitete sie viele Jahre als Journalistin für deutsche und Schweizer Tageszeitungen. Heute engagiert sie sich als Dozentin und Mitglied des Karlsruher Integrationsausschusses für Bildung, Kultur und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Im Interview spricht sie als Privatperson.

Frau Wurm, am 23. Februar findet die vorgezogene Bundestagswahl statt. Viele sprechen von einer „Schicksalswahl über die Zukunft der Demokratie“.

Ich habe mich lange gegen diesen Begriff „Schicksalswahl“ gewehrt, weil ich diese Aufregung, die in der Äußerung steckt – ich komme ja selbst aus der Medienbranche – oft ärgerlich finde. Aber wenn ich sehe, wie die AfD in den Umfragen steigt und steigt, denke ich: Es kommt jetzt darauf an, dass wir zur Wahl gehen.

Sie sind Politikwissenschaftlerin. Wie erklären Sie den Leuten, warum es besonders wichtig ist, wählen zu gehen, wenn man die Demokratie stützen will? Anders gefragt: Warum zählt jede Stimme?

Wir müssen dieser Wahlverdrossenheit ein Ende bereiten. Wir sind freie, souveräne, gleiche Bürger*innen. Wir genießen das Wahlrecht, wir können entscheiden und sollten dies tun. Wir müssen uns darüber informieren, welche Parteien extrem sind, welche Parteien nicht auf dem Boden des Grundgesetzes stehen und welche Parteien den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden, für den Deutschland eigentlich bekannt ist. Wir sind das Land der Mitte und der Kompromisse.

Das zweite ist: Es geht im Kern um die Wahrung der Grund- und Freiheitsrechte von uns allen, egal, wieviel wir verdienen, egal welche Herkunft wir haben. Das sollte unsere Leitidee für unsere Wahlentscheidung sein. Auch wenn in der vereinigten Bundesrepublik nach der Vereinigung in den letzten Jahrzehnten viele Fehler gemacht wurden – die Geschichte der deutschen Demokratie ist eine beeindruckende und deshalb gilt es, sie mit unseren Stimmen zu stützen.

Drittens: Wir haben ein Verhältniswahlrecht. Es kommt in jedem Wahlbezirk darauf an, wie viele Stimmen die Kandidatinnen und Kandidaten anteilmäßig erhalten. Da können manchmal ein paar wenige Stimmen entscheidend sein.

Die AfD hat in Karlsruhe durch sogenannte „Abschiebetickets“ als Wahlkampfaktion vielfach Wut und Empörung ausgelöst. Der KIT-Zeithistoriker Rolf-Ulrich Kunze spricht in dem Zusammenhang von der „hämischen Verhöhnung der Werteordnung unserer Verfassung“. Dennoch liegt die Partei in Umfragen bei 20 Prozent. Ist eine demokratisch gewählte Partei automatisch eine demokratische Partei?

Nein. Unsere Richtschnur muss die freiheitlich-demokratische Grundordnung sein. Die Grundrechtsartikel in unserer Verfassung, im Grundgesetz, sind unveränderbar. Eine Partei, die mit ihrer Mehrheit diese Rechte lokal oder regional infrage stellt, ist nicht verfassungsgemäß. Das sagt schon alles.

Als nächstes käme die Frage, unter welchen Voraussetzungen man eine Partei überhaupt verbieten kann. Unser Grundgesetz hat mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dafür eine hohe Hürde gesetzt, gerade vor dem Hintergrund unserer ganz besonderen Geschichte mit den Erfahrungen am Ende der Weimarer Republik.   

Im Wahlkampf wird oft zugespitzt und gegen den politischen Gegner hart geschossen. Worauf sollten Parteien im Wahlkampf besonders achten?

Es macht mir große Sorge, dass große wie kleine Parteien anfangen, in ihrer Wortwahl die AfD zu kopieren oder es schon längst tun. Wer diese Rhetorik des Ausschlusses übernimmt, überschreitet eine Trennlinie. Wir sind als Menschen alle gleich. Das muss das Leitmotiv für alle demokratischen Parteien sein.

Was macht für Sie eine „wehrhafte Demokratie“ aus und wo sehen Sie die besten Partizipationsmöglichkeiten auch unzufriedener Bürger*innen?

Das ist eine Frage, die ich oft in meinen Kursen zu hören bekomme, gerade von engagierten Personen. Es ist auch ein großes Thema in den Integrationskursen. Ich versuche dort ja, den neuen Bürgerinnen und Bürgern Karlsruhes die Geschichte und die politische Grundordnung Deutschlands beizubringen.

Viele Menschen wissen nicht, wie weit sie sich mit Petitionen einbringen können. Sie denken nicht, dass sie gehört werden, wenn sie an ihre Bundestagsabgeordneten schreiben oder auch direkt an den Minister oder die Ministerin. Dass sie sich an eine ganz breite Landschaft von Vereinen und Interessengemeinschaften wenden können, um ihre Stimme zu verstärken.

Die Demokratie steht weltweit unter Druck: Worin sehen Sie global die größte Bedrohung und worauf schauen Sie mit Zuversicht?

Große Sorge bereitet mir nicht nur, dass von den USA bis Ungarn viele Demokratien ausgehöhlt werden oder deren Institutionen massiv unter Druck geraten. Sondern auch dass sich Menschen in den Systemen einrichten, weil sie nicht selbst unmittelbar von einer Einschränkung an Meinungsfreiheit bedroht sind oder andere ihrer Rechte in Gefahr sind. Dieses Sich-daran-gewöhnen sehe ich eigentlich als größte Gefahr.

Meine Zuversicht ist, dass Menschen sich das nicht gefallen lassen. Man schimpft oft gerne auf die jungen Leute! Es gibt aber Gruppen, die sich selbst über TikTok vernetzen. Die sich politisch engagieren, die sich für die Gleichberechtigung aller Geschlechter einsetzen, die sehr schnell und wendig sind, die widersprechen. Das ist meine Zuversicht. 


Karlsruher Stimmen

Das Interview führte Stefanie Wally im Januar 2025. In der Reihe Karlsruher Stimmen lässt das Bündnis für Demokratie und Menschenrechte Karlsruhe Personen aus der Region zu Wort kommen, die aus einem ganz persönlichen Blickwinkel auf Demokratie und Menschenrechte schauen. Hier ist Platz für Meinungen und Diskussionen sind ausdrücklich erwünscht. Alle Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner eint der gemeinsame Einsatz für unsere Demokratie und die unumstößlichen Menschenrechte.