Karlsruher Stimmen I Demokratie und Menschenrechte im Gespräch
Ursula Leuchte-Wetterling über die Landtagswahlen in Ostdeutschland, Menschenrechte am Rand der Gesellschaft und die Sichtbarkeit der Demokratinnen und Demokraten
Zur Person
Ursula Leuchte-Wetterling (Jhg. 1949, Dipl. Pädagogin und Sozialgerontologin) reiste 1984 als Regimegegnerin aus der DDR aus. In ihrer neuen badischen Heimat war sie zunächst in Einrichtungen und Projekten für verhaltensauffällige Jugendliche, Suchtkranke und Rehabilitanden aktiv. Seit 2007 arbeitet Ursula Leuchte-Wetterling freiberuflich als Trainerin und Beraterin für Themen wie Age Management, Resilienz, Kommunikation und Organisationsentwicklung. Sie lebt in Karlsruhe.
Frau Leuchte-Wetterling, wir wollen zunächst ganz konkret auf die Landtagswahlen in Ostdeutschland schauen, zwei von drei liegen jetzt hinter uns. Wie geht es Ihnen mit dem Ergebnis?
Ich bin noch dabei es zu verarbeiten, es ist wirklich eine Schockstarre, ein Unverständnis. Es ist für mich besonders schmerzhaft, dass so viele junge Menschen die AfD wählen. Ich kann mich noch gut an meine Jugend erinnern. Hauptsache, man war irgendwo dabei und gegen irgendetwas. Dieses nicht Mitschwimmen wollen, das hat die AfD total erkannt. Viele, die differenziert und demokratisch denken, die haben schon lange diese Regionen verlassen. Die sind schon lange woanders beheimatet. Die, die zurückbleiben, sind sehr viele Alte, die noch stark von der DDR geprägt sind und die DDR hatte eben genau das. Entweder bin ich dafür oder dagegen.
„Als ich hier rüberkam, musste ich erstmal Demokratie lernen.„
Wo standen Sie?
Ich war immer auf der anderen Seite, wir waren halt wir. Wir hatten drei Haftbefehle und Stasi-Akten, Berufsverbot, alles, was dazugehört. Wir wollten nicht weg, weil wir Bananen oder BMW haben wollten, sondern wir wollten in ein freies Land. Der Zusammenbruch der DDR, der ja voraussehbar war, das waren ja nicht alles Bürgerrechtler auf der Straße. Da waren auch ganz viele normale Leute darunter, die einfach ein besseres Leben wollten. Aber gerne unter den Bedingungen, unter denen sie groß geworden sind, behütet und versorgt.
Und das greift, glaube ich, heute noch bei den Wahlen. Sie fühlen sich nicht beachtet, sie fühlen sich zur Seite gestellt. Das macht mir Angst, und zwar deshalb, weil ich die 70 Prozent nicht sehe. Wir gucken auf die 30 Prozent AfD-Wähler, aber vor denen habe ich nicht die Angst. Ich habe Angst vor dem Schweigen der 70 Prozent.
Sie sind heute Wahl-Karlsruherin, die Gründe für die Ausreise aus der DDR haben Sie schon dargelegt. Wie haben Sie in ihrem Lebenslauf diese Beziehung zwischen Ost und West erlebt?
Als ich hier rüberkam, musste ich erstmal Demokratie lernen. Meine erste Arbeitsstelle war eine als Erzieherin, meine Qualifikation als Lehrerin wurde nicht anerkannt. Plötzlich hatte ich Kollegen, wo der eine bei der CDU war, der andere bei der SPD und der nächste war Grüner. Ich musste jetzt mit Menschen umgehen, habe gemerkt, dass man sich mit jedem argumentativ auseinandersetzen kann. Und dass das auch geht, wenn man sich zuhört.
Bei der Bewerbung für diese Stelle wurde, das habe ich im Nachhinein erfahren, tagelang mit dem Personalrat darüber diskutiert. So eine Ossi, wer weiß, was die uns mit reinschleppt? Ein Kollege hat mich mal gefragt, seit wann ich eigentlich in Deutschland leben würde. Ich habe dann gesagt, dass ich in Deutschland geboren bin, worauf er meinte: nein, im richtigen Deutschland. Das ist das, was die Menschen im Osten erlebt haben.
Anlass für unser Interview war das Wahlergebnis einer Partei, die beispielweise in Thüringen vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft wird und dort mehr als ein Drittel der Mandate holte. Der Blick auf die Ergebnisse der Europawahl im Mai zeigt aber auch: das ist kein allein Ost-Deutsches Problem. Wir müssen auch über unsere Region sprechen, über Karlsruhe. Was beobachten Sie hier?
Ja, das müssen wir unbedingt. Ich habe damals nach der Europawahl einen Brief an den Karlsruher Oberbürgermeister und den Gemeinderat geschrieben, auch einen Leserbrief in der Zeitung. Wann, wenn nicht jetzt, dachte ich. Aber es ist nichts passiert. Viel zu oft wird einfach nur auf konkrete Situationen reagiert. Und dann muss man immer abschätzen, neutral bleiben. Das ist Quatsch, finde ich.
Gibt es ihrer Meinung nach so etwas wie Neutralität gegenüber extremen Ansichten?
Ich finde nicht, dass man neutral sein kann. Man muss eine Haltung haben. Das finde ich ganz wichtig.
Das Bündnis für Demokratie und Menschenrechte Karlsruhe möchte diese Haltung zeigen. Was sind ihre Erwartungen an uns?
Um etwas zu verändern, braucht es Bündnisse. Allein schaffe ich das schwer. Ich fand das toll, als euer Bündnis gegründet wurde. Aber seitdem habe ich nicht mehr viel von euch gehört. Ich finde man sollte präsenter sein, gerade in den Schulen oder an der Universität. Da ist der Platz bei den Menschen. Dort muss man zeigen, was Demokratie heißt, wo Demokratie Stopp sagen muss.
„An Demokratie teilzuhaben, bedeutet auch einen Aufwand“
Sie haben in ihrem beruflichen Leben mit Menschen und Gruppen gearbeitet, die am Rand unserer Gesellschaft stehen. Das eröffnet sicher, zusätzlich zu deinem Leben in der DDR, nochmal ganz andere Perspektiven auf das Thema.
Ja. Ich sage jede Woche mindestens einmal zu mir selbst, wenn ich so die Welt betrachte, dass wir doch eigentlich im Paradies leben.
Wie steht es denn an diesem sogenannten „Rand der Gesellschaft“ um Demokratie und Menschenrechte?
Ich erlebte es mit den Jugendlichen, mit denen ich gearbeitet habe, die kamen teils aus dem Knast. Wenn sie wollten, wurde sich um sie gekümmert. Das war gravierend anders, als ich es aus der DDR kannte. Aber es braucht mehr Momente der Begegnung. Wer von denen, die behaupten, dass uns Flüchtlinge die Termine beim Zahnarzt wegnehmen, kennt denn selbst einen Flüchtling, einen Sozialhilfeempfänger oder einen Obdachlosen? Das heißt nicht, dass in der Flüchtlingspolitik einiges wirklich verquer und nicht gut gelaufen ist. Hunderte junge Männer irgendwo in eine Unterkunft packen und nicht arbeiten lassen – was soll denn da passieren? Menschenrechte achten heißt Menschenrechte wahren.
Hat jeder die gleichen Möglichkeiten, an unserer Demokratie teilzuhaben?
Sicher nicht. Aber an Demokratie teilzuhaben, bedeutet auch einen Aufwand. Da muss man sich selbst kümmern. Wo wir wieder beim Osten sind. Das haben die Menschen in der DDR je nie gelernt. Ich wusste in der siebten Klasse, was ich werde, wo ich hinkomme. Ich hätte mich nicht kümmern müssen.
Ist das aber nicht ein Widerspruch? Junge Menschen in Ost-Deutschland, die das alles nicht erlebt haben, wählen ja trotzdem genauso die AfD.
Das passt zusammen, hat aber mit der Jugend grundsätzlich zu tun, denke ich. Es ist cool, irgendwo dagegen zu sein. Ich habe gestern ein Interview gesehen mit einem Jungen aus Pirna, der sagte, er könnte in seiner Gruppe nie sagen, dass er CDU oder SPD wählt. Die da oben, die alles falsch machen, man würde ihn für bekloppt halten. Die AfD greift das sehr erfolgreich ab.
Am 23. Mai hat das Bündnis für Demokratie und Menschenrechte eine Menschenkette um das Bundesverfassungsgericht organisiert und damit 75 Jahre Grundgesetz begangen. Sie waren mit dabei. Was waren ihre Gedanken zu diesem Jubiläum?
Wir hätten uns 1989 eine gemeinsame Verfassung geben sollen, auch eine gemeinsame Nationalhymne. Es wäre die Chance gewesen, etwas zu verbinden, statt die Teilung zu bestärken. Aber die Menschenkette fand ich sehr bewegend. Die Demokraten zu sehen, das war ein Gefühl wie damals, als wir in der DDR heimlich und mit zugezogenen Vorhängen im West-Fernsehen zum Sendeschluss die Nationalhymne gehört haben. Das ist auch mein Wunsch an die Demokraten, an die Stadt, an die Politik, an euer Bündnis: einfach sichtbarer zu sein, wirklich zu den Menschen zu gehen.
Karlsruher Stimmen
Das Interview führte Luca Wernert im September 2024. In der Reihe Karlsruher Stimmen lässt das Bündnis für Demokratie und Menschenrechte Karlsruhe Personen aus der Region zu Wort kommen, die aus einem ganz persönlichen Blickwinkel auf Demokratie und Menschenrechte schauen. Hier ist Platz für Meinungen und Diskussionen sind ausdrücklich erwünscht. Alle Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner eint der gemeinsame Einsatz für unsere Demokratie und die unumstößlichen Menschenrechte.