Der 9. November – ein Karlsruher Erinnerungstag gegen Antisemitismus und für Demokratie und Menschenrechte
Ein Leitartikel zum 9. November 2024 von Susanne Asche
Zur Person
Die promovierte Literaturwissenschaftlerin Susanne Asche war von 2008 bis 2021 Leiterin des Karlsruher Kulturamtes. Sie studierte Germanistik, Geschichte, Politikwissenschaften, Pädagogik und Philosophie an der Philipps-Universität Marburg und absolvierte ein Referendariat für das Lehramt an Gymnasien in der Freien und Hansestadt Hamburg. Nach Lehraufträgen an den literaturwissenschaftlichen und historischen Seminaren der Universitäten Hamburg, Karlsruhe und Tübingen arbeitete sie als Stadthistorikerin am Stadtarchiv Karlsruhe. Von 2003–2007 leitete sie den Fachbereich Kultur der Stadt Offenburg.
Die Erinnerungen an den Novemberpogrom von 1938 und an die Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten sowie ihrer Verbündeten sind ein Statement gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, gegen Judenhass und Antisemitismus sowie gegen demokratiefeindlichen Nationalismus. Seit den 1980er Jahren sind sie fester Bestandteil der Karlsruhe Stadtidentität, die Veranstaltungen zum 9. November sind ein wesentliches Element darin.
Doch seit einigen Jahren werden deutschlandweit die Erinnerungskultur und ihre Einrichtungen angegriffen, verächtlich gemacht und nun gerät auch der 9. November in einen Kampf um die Deutungshoheit, wenn die Vertreter der äußersten Rechten an diesem Tag eine Kundgebung veranstalten wollen. Es soll vergessen werden, woran erinnert wird bzw. die Erinnerungen sollen überschrieben werden mit nationalistischen Tönen. Das aber ist ein Angriff auf die Menschenrechte und die Demokratie.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden die Karlsruher und Grötzinger Synagogen zerstört, Geschäfte jüdischer Inhaber geplündert, Wohnungseinrichtungen zerstört und rund 500 Männer verhaftet und nach Dachau verschleppt. Dieser Novemberpogrom, wegen der vielen zerschlagenen Glasscheiben auch zynisch „Reichskristallnacht“ genannt, war der Höhepunkt der offenen Gewalt gegen die jüdische Minderheit und der Auftakt ihrer Vertreibung, später Verschleppung und Ermordung. Das letzte Mal hatte man im April 1933 eine deutschlandweite offene Straßenaktion durchgeführt mit dem Ziel, unter dem Motto „Kauft nicht bei Juden“ die Geschäfte jüdischer Menschen zu boykottieren. Das war damals kein Erfolg, so dass in den kommenden Jahren auf offene Aktionen verzichtet wurde. Allerdings begann sofort nach der Machtübernahme der Nazis Schritt für Schritt die Verfolgung und Entrechtung jüdischer Menschen, ohne dass dies auf nennenswerten Widerstand seitens der Mehrheitsgesellschaft stieß. Fünf Jahre nach der Machtübernahme, im November 1938, konnten die Nazis sicher sein, dass ihre Zerstörungen und Gewalttaten hingenommen werden.
Diese emotionale Unbeteiligtheit der Mehrheitsgesellschaft wurde auch ein Markenzeichen der ersten Jahre der Bundesrepublik. So stellte Hannah Arendt 1950 nach ihrem „Besuch in Deutschland“ fest, „daß über Europa ein Schatten tiefer Trauer liegt. […] Doch nirgends wird dieser Alptraum von Zerstörung und Schrecken weniger gespürt und weniger darüber gesprochen als in Deutschland.“ (Hannah Arendt: Besuch in Deutschland, 1993 RotbuchVerlag, S. 24)
Erst in den 1970er Jahren entstand in der Bundesrepublik eine von wachsenden gesellschaftlichen Kreisen getragene Erinnerungs- und damit auch Trauerkultur, die die Verbrechen der Nazi-Zeit und ihrer Opfer ins allgemeine Bewusstsein bringen wollte. Die Stadt Karlsruhe war hier eine Vorläuferin, denn schon seit 1963 betreuen die badischen Städte, Gemeinden und Kreise, aus denen Juden 1940 nach Gurs verschleppt wurden, auf Initiative von Karlsruhe hin die Friedhöfe dieses südfranzösischen Lagers.
Zudem gibt es in Karlsruhe wohl schon seit Ende der 1970er Jahre – so die Erinnerungen mancher Menschen – Veranstaltungen, die an die Gewalttaten und Menschenrechtsverbrechen des 9. Novembers 1938 erinnert. Die Initiative dafür ging – so ist es überliefert – unter anderem von Mir Mohammedi aus, der seit 1988 Mitveranstalter der Gedenkveranstaltung war und auch erreichte, dass an diesem Tag keine anderen Veranstaltungen stattfinden durften. Seit vielen Jahren besteht der AK 9. November, ein breites Bündnis von gesellschaftspolitischen Initiativen, Gewerkschaft und der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Letztere trägt seit vielen Jahren die Organisation der Veranstaltung. Auch finden alljährlich Mahnwachen von Schülerinnen und Schulen wechselnder Schulen an dem Ort der ehemaligen Synagoge am Kronenplatz statt.
Anlässlich des 50. Jahrestags des 9. Novembers im Jahr 1988 lud die Stadt Karlsruhe die Überlebenden und Nachfahren der jüdischen Opfer in die Stadt ein. Es kamen in zwei Gruppen hunderte Menschen, viele von ihnen zum ersten mal wieder nach Karlsruhe. Zudem veröffentlichte das Stadtarchiv in zwei Bänden die Geschichte der Karlsruher Juden von den Anfängen bis in die ersten Jahrzehnte der BRD. Die beiden Bände waren die Grundlage für die zeitgleiche Ausstellung im Stadtmuseum.
Seitdem ist die lebendige Erinnerungskultur ein wesentliches Element der Karlsruher Stadtidentität. Noch vor rund 20 Jahren durften in Karlsruhe am 9. November keine anderen als die Erinnerungsveranstaltung stattfinden, woran sich auch z. B. die nichtstädtischen Kultureinrichtungen weitgehend hielten.
Doch mit dem zeitlichen Abstand zu den Ereignissen steht die Stadtgesellschaft vor neuen Herausforderungen. Es gibt kaum noch Zeitzeugen und die Stadt wurde immer internationaler. Eine wachsende Gruppe steht in keinem familiengeschichtlichen Zusammenhang mehr zu den Verbrechen des nationalsozialistischen Staates und seiner Gesellschaft. Der Holocaust aber war ein Menschheitsverbrechen und der totale Zivilisationsbruch. Das erkannte die Welt und das mündete u. a. in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO von 1948. Auch das Grundgesetz von 1949 ist gezeichnet durch diese Erkenntnis.
Um das Erinnern an die Opfer weiterhin lebendig zu halten in einer internationalen Gesellschaft, in der viele Menschen leben, die in keiner Weise etwas mit der deutschen Geschichte bis 1945 zu tun haben, entwickelte 2002 das Stadtarchiv und betreut bis heute das „Gedenkbuch für die ermordeten Juden“. Durch die ehrenamtliche Erforschung der Lebensläufe der Opfer, an der sich alle Menschen in der Stadt, gleichgültig woher sie kommen, beteiligen können, kann die Empathie mit den Verfolgten und letztlich die Widerstandsfähigkeit gegen Ausgrenzung von Menschen gestärkt werden – so wenigsten die Hoffnung. Das Gedenkbuch bietet auch die Informationen für die Verlegung der Stolpersteine.
Doch es bleibt eine Aufgabe, der Wiederkehr der Gleichgültigkeit, der Verächtlichmachung der Opfer und die Verharmlosung der Verbrechen sowie der derzeit um sich greifenden Verrohung der Sprache entgegenzutreten. Wie dies so gestaltet werden kann, dass sich viele Menschen davon angesprochen und aufgefordert fühlen, sich gegen das Vergessen und für eine weltoffene Gesellschaft der Freundlichkeit einzusetzen, bleibt eine Herausforderung, die sich heute leider mehr noch stellt als vor einigen Jahrzehnten.