Demokratie ist nichts Starres

Karlsruher Stimmen I Demokratie und Menschenrechte im Gespräch

Bild: Bundesverfassungsgericht / lorenz.fotodesign, Karlsruhe

Dr. Ulrich Maidowski über seine Verantwortung als Verfassungsrichter, „Trial-and-Error“ in unserer Demokratie und die Dimension Zukunft in unserer Rechtsprechung

Zur Person

Dr. Ulrich Maidowski wurde im Juli 2014 als Richter an das Bundesverfassungsgericht berufen. Davor war der gebürtige Niedersachse unter anderem als Richter am Bundesverwaltungsgericht, dem Oberlandesgericht Hamm, dem Oberverwaltungsgericht Münster und dem Verwaltungsgericht Aachen tätig. Ulrich Maidowski lebt mit seiner Familie in Karlsruhe. Seine Schulzeit verbrachte er in Tokyo (Japan), Wolfsburg, Kabul (Afghanistan) und Hannover, das Studium der Rechtswissenschaft absolvierte er an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen und der Universität der Provence Aix-Marseille.

Herr Maidowski, ist unsere Demokratie gerade in Gefahr?

Demokratie ist eine Staatsform, die alle beteiligen und Gleichheit herstellen will. Natürlich zieht das Probleme an, es sollen ja gerade auch die angesprochen sein, die nicht einverstanden sind. Man kann sogar sicher sagen, dass an vielen Stellen inzwischen mehr als nur Kritik an der Demokratie geäußert wird. National und international geht es oft schon viel weiter in eine regelrechte abgrundtiefe Verachtung von Demokratie über. Das ist ein Alarmzeichen.

Ich verfalle deshalb aber nicht in Pessimismus, sondern bin für unser Land sehr zuversichtlich. Schließlich hat diese Gefährdungssituation dazu geführt, dass viel passiert, viel über Demokratie nachgedacht und gesprochen wird. Nicht nur in philosophischen Seminaren, sondern auch in den Kneipen und in den Schulen. Demokratie ist kein Expertenthema mehr. Das ist ein sehr gutes Zeichen.

Wie kommen Sie als Bundesverfassungsrichter ihrer besonderen Verantwortung für unseren Rechtsstaat und unsere Werteordnung nach?

Als Bundesverfassungsgericht haben wir den Auftrag, über unser Grundgesetz zu wachen. Das ist aufwendig, aber wir dürfen nie denken, dass es nur an uns hängt. Wir sind ein Teil des Staates und der Gesellschaft. Da sind noch viele andere Institutionen, die Zivilgesellschaft, die Behörden – sozusagen ein ganzer, vielstimmiger Chor. Ohne das Vertrauen und die Mitwirkung all dieser Kräfte könnten wir unseren Auftrag nicht erfolgreich wahrnehmen.

Als Richter werden wir vor allem dann wahrgenommen, wenn wir in den roten Roben ein wichtiges Urteil verkünden. Die Demokratie verteidigt sich aber nicht nur in den großen „Leuchtturmverfahren“. Wir haben hier im Jahr fünf bis sechstausend Verfahren und ein großer Teil endet nicht mit Erfolgen, sondern mit der Nichtannahme einer Verfassungsbeschwerde. Trotzdem stabilisieren auch diese vielen kleinen Verfahren die Demokratie, weil wir stets sehr gründlich prüfen, was die Beschwerdeführenden als Verfassungsverletzungen empfunden haben.

Als das Bündnis für Demokratie und Menschenrechte Karlsruhe letztes Jahr am 23. Mai eine Menschenkette um das Bundesverfassungsgericht bildete, wurde anlässlich des 75. Jahrestags unseres Grundgesetzes auch viel über den juristischen Schutz des Bundesverfassungsgerichts diskutiert. Braucht es den?

Diese Institution hat bisher sehr gut funktioniert, kann aber für Personen, die vielleicht nicht jede Position durchsetzen konnten, auch ein Ärgernis sein. Deshalb empfand ich diese Menschenkette als ein wirklich gutes Zeichen.

Wahr ist aber auch: Wir hatten für dieses Gericht kein besonders ausgefeiltes Regelwerk. Manche Themen wie unsere Amtszeit oder das Wahlverfahren waren auf Verfassungsebene nicht geregelt, zum Teil gar nicht geregelt. Und an Beispielen in anderen europäischen Staaten haben wir gesehen, wie wahnsinnig schwierig das werden kann. Deswegen war es richtig, darüber zu diskutieren und das Grundgesetz an dieser Stelle zu ändern.

Was ist ihre Taktik, um mit Demokratiefeinden umzugehen, die unsere demokratische Gesellschaft in Frage stellen?

Als Richter hätte ich zunächst den Reflex, erstmal rauszukriegen ob wirklich jeder ein Demokratiefeind ist, der im politischen Streit so bezeichnet wird. Vielleicht ist das auch nur ein Kritiker und Kritiker sind willkommen. Aber wo liegt die Grenze? Diese Frage hängt sehr eng mit der Meinungsfreiheit zusammen und ich glaube, wir dürfen da nicht in Extreme verfallen. Aber: Wenn jemand die gemeinsame Basis unserer Verfassung verlässt, sich nicht daran gebunden fühlt, muss man das auch deutlich fragen und es kann eine konsequente Reaktion angebracht sein.

Ich finde es nur wichtig, keine Institution, keine Partei oder einzelne Menschen pauschal in eine Schublade zu stecken. Und als Richter möchte ich mir das alles erstmal anhören, mir mein eigenes Bild machen. Das kann quälend sein und manchmal nerven, aber wir müssen einander zuhören – egal ob vor Gericht oder anderswo.

Zuhören, ansprechbar sein – das Bundesverfassungsgericht bezeichnet sich selbst als Bürgergericht. Mit der Verfassungsbeschwerde kann sich jeder an das Gericht wenden und seinen Fall überprüfen lassen. Braucht unser System mehr solcher Elemente?

Die Diskussion darüber, wie Demokratie ausgebaut werden kann, ist eine politische und so alt wie die Demokratie selbst. Hier sind Gerichte nicht als erste gefragt. Die politischen Ebenen überall, die Gesellschaft und die Bürgerinnen und Bürger müssen darüber nachdenken und Vorschläge machen. Die Erfahrungen damit sind nie einfach nur gut oder schlecht. Von den Bürgerräten, die aktuell erprobt und praktiziert werden, steht nichts Ausdrückliches im Grundgesetz. Das muss jetzt erstmal erprobt werden und wenn es Probleme geben könnte, sind wir vielleicht irgendwann gefragt.

Es kann in unserer Demokratie also auch ein „Trial-and-Error“ geben?

Klar, absolut! An vielen Stellen beklagen sich Leute, dass ihnen keiner zuhören würde, dass man überhaupt nicht mehr sagen dürfe, was man denkt. Ich glaube, das ist total falsch und wird herbeigeredet. Aber das Bedürfnis, mehr beteiligt zu werden, ist schon da und ist doch auch sehr nachvollziehbar. Daran müssen wir arbeiten und auch solche Formen ausprobieren, die in die Zukunft reichen. Demokratie ist nichts Starres, sondern eine sehr lebendige Staatsform.

Stichwort Zukunft: muss diese Dimension in unserer Rechtsprechung mehr miteinbezogen werden, wie zum Beispiel beim Klimaschutzurteil? Dort hat das Bundesverfassungsgericht mit den Rechten zukünftiger Generationen argumentiert.

Diese Diskussion hat sofort nach der Verkündung dieser Entscheidung angefangen. Ich bin skeptisch, dass man die Argumentation aus dem Klima-Urteil auf alle Sachbereiche übertragen kann, die in diesem Zusammenhang genannt worden sind. Denn es gibt einen wesentlichen Unterschied: Wenn wir das mit dem Klimaschutz nicht in den Griff bekommen, steht physisch unsere Zukunft auf dem Spiel. Das ist eine existenzielle Frage.

Trotzdem finde ich es eine gute Idee, darüber nachzudenken, ob wir nicht unsere Denkweise ein bisschen über längere Zeiträume als nur vier oder fünf Jahre strecken sollten. Dass wir das jetzt als zusätzlichen gedanklichen Prüfungsansatz mit uns herumtragen, ist super.

Sie leben derzeit in Karlsruhe, der „Stadt des Rechts“. Warum passt das Bundesverfassungsgericht gut hierher?

Der erste Grund liegt auf der Hand. Karlsruhe ist nicht Berlin, ein bisschen „ab vom Schuss“. Eine unserer Aufgaben ist ja, die Regierung zu kontrollieren. Und dafür ist es gut, diese – in Zeiten von elektronischem Rechtsverkehr sicher eher symbolhafte – Distanz zu haben.

Es gibt aber noch einen anderen Grund, den ich spannend finde. Karlsruhe liegt mitten in Europa, Berlin eher nicht. Nach Straßburg, wo der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu Hause ist, bin ich schon mit dem Fahrrad gefahren. Auch Luxemburg mit dem EuGH ist nicht weit. Das macht einem bewusst, dass wir nicht allein sind, sondern ein wichtiger Teil der EU.

Was wollen Sie den Akteuren aus der Zivilgesellschaft mit auf den Weg geben, die sich im Karlsruher Bündnis für Demokratie und Menschenrechte zusammengeschlossen haben?

Es ist nicht nur fair, sondern es ist mir auch wichtig, erstmal mit einem großen Kompliment anzufangen. Es ist super, dass dieses Bündnis so weit gespannt ist und dass da Kräfte drin sind, die früher gar nicht miteinander geredet haben. Und dass es ein Bündnis nicht nur gegen etwas, sondern für etwas ist, für ein gemeinsames Ziel.

Um auf Ihre Frage zu antworten: Ich wollte in den letzten Jahren bei Veranstaltungen von den Teilnehmenden immer wieder wissen: Was ist für euch Demokratie? Und was ist für euch unsere Demokratie? Dabei habe ich etwas Wichtiges gelernt:

Einerseits ist Demokratie sehr vielgestaltig. Der eine hat gesagt, für ihn sei Demokratie Buntheit. Für jemand anderen ist Demokratie, dass die Mehrheit die Entscheidung trifft. Wieder andere finden es wichtig, dass in der Demokratie, die Minderheit nicht „plattgemacht“ wird, sondern in den politischen Prozess eingebunden wird. Am Ende solcher Abende stehen manchmal fast so viele Vorstellungen von Demokratie wie Teilnehmende anwesend waren. Meine Erkenntnis daraus ist, dass es sich lohnt, alle zu beteiligen. Das Potenzial für die Demokratie wird dadurch riesig.

Aber andererseits hat unsere Demokratie einen gemeinsamen Begriffskern, den man nicht wählen oder abwählen kann, sondern der für alle unbedingt verbindlich ist. Dieser Kern ergibt sich aus der Verfassung. Zu diesem Kern gehören beispielsweise faire Wahlen, die Chance der Opposition, zur Mehrheit zu werden, die Mitwirkung aller am politischen Prozess. Und ganz wichtig ist der Respekt gegenüber den Rechten der anderen, gegenüber anderen Meinungen und Lebensweisen, mit einem Wort: Toleranz. Ohne diese Toleranz kann unsere Demokratie nicht gelingen, ohne sie kommen wir nicht weiter.


Karlsruher Stimmen

Das Interview führte Luca Wernert im Februar 2025. In der Reihe Karlsruher Stimmen lässt das Bündnis für Demokratie und Menschenrechte Karlsruhe Personen aus der Region zu Wort kommen, die aus einem ganz persönlichen Blickwinkel auf Demokratie und Menschenrechte schauen. Hier ist Platz für Meinungen und Diskussionen sind ausdrücklich erwünscht. Alle Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner eint der gemeinsame Einsatz für unsere Demokratie und die unumstößlichen Menschenrechte.

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