Karlsruher Stimmen I Demokratie und Menschenrechte im Gespräch
Alessandro Bellardita über den Zustand der Demokratie in Deutschland und Italien, das Mehrheitsprinzip und die Bedeutung eines „fehlerhaften“ Menschenbildes
Zur Person
Dr. Alessandro Bellardita ist Strafrichter, Speaker, (Krimi-)Autor und Dozent. Er wurde in Sizilien geboren, seine Eltern wanderten Anfang der 80er nach Deutschland aus. Aufgewachsen ist er in Karlsruhe. Nach dem Abitur an der Europäischen Schule in Karlsruhe studierte er Rechtswissenschaften in Mannheim und Heidelberg und war jahrelang als Richter und Dozent an der Hochschule Schwetzingen tätig. Als freier Publizist verfasst er überwiegend journalistische Beiträge für italienische und deutsche Medien und hält Vorträge.
Herr Bellardita, Sie sind Strafrichter, Speaker, Krimiautor, Publizist und Dozent. Was eint diese Tätigkeiten in Hinblick auf ihre Motivation?
Ich finde, dass es einen roten Faden gibt und dieser rote Faden ist Artikel 1 des Grundgesetzes. Es ist völlig egal, ob ich als Strafrichter unterwegs bin, als Krimiautor oder Speaker: Das Thema ist Menschenwürde und wie sich die Menschenwürde auf Handlungsweisen des Staates auswirkt sowie auf den Umgang von Menschen untereinander. Die Frage, wie eine ideale Gesellschaft funktionieren sollte, spielt bei mir tatsächlich immer eine Rolle.
Sie sind in Italien geboren und in Karlsruhe aufgewachsen. Wenn Sie den Zustand der Demokratie in Deutschland und in Italien heute vergleichen, wie fällt ihre Analyse aus?
Insgesamt sind es zwei reife Demokratien – Italien hat sicherlich den Vorteil einer etwas unabhängigeren Justiz, vor allem die Staatsanwaltschaft. Das hat auch dazu geführt, dass Politiker bevor sie etwas tun, es sich genau überlegen. Deshalb gibt es auch immer wieder politische Skandale, die dort aufgedeckt werden. Deutschland ist sicherlich handlungsfähiger und hat eine viel stabilere Regierung als Italien.
Italien überlässt unheimlich viel der Zivilgesellschaft, was dazu führt, dass sich beispielsweise nie wirklich das Thema der Integration stellt. Die Integration wird schlichtweg den sozialen Begegnungsstätten überlassen. Es gibt immer eine zwischenmenschliche Ebene. Ich nenne es mal das Herz in einer Gesellschaft. Umgekehrt schafft es Italien aber nicht, in solchen Fällen eine Institution aufzubauen.
In Deutschland haben wir diese unglaublich effektive Art, Verwaltungen aufzubauen, aber uns fehlt wiederum das Herz. Wenn wir es schaffen würden, tatsächlich ein bisschen mehr Empathie einzubringen, ein bisschen mehr Verständnis für die Leute, dann könnten wir beispielsweise das große Thema Integration sicherlich etwas entspannter betrachten.
Gehen wir nach Deutschland zurück: Wir haben dieses Jahr – auch in Karlsruhe mit einer Menschenkette und einer großen Geburtstagsfeier – den 70. Geburtstag unseres Grundgesetzes gefeiert. Sie bezeichnen das Grundgesetz als „Wunderwerk“. Warum?
Das Grundgesetz hat zwei Seelen: eine innere und eine äußere. Die innere Seele ist am besten repräsentiert von Carlo Schmid, der damals im Werdegang des Grundgesetzes unheimlich wichtig war. Er hatte geniale Ideen, wie zum Beispiel das konstruktive Misstrauensvotum, was zu einer enormen Stabilität unseres politischen Systems geführt hat. Insgesamt war der innere Geist der Verfassung ein solcher, der zwar Demokratie nach außen institutionalisieren wollte, aber nach innen dieser Demokratie vor allem eine Aufgabe zukommen ließ, nämlich individuelle Freiheiten zu schützen. Daraus folgte das große Bekenntnis zur Menschenwürde.
Die äußere Seele der Verfassung ist sicherlich am besten mit Konrad Adenauer dargestellt, der es verstanden hat, dass Deutschland im internationalen Kontext wieder Anerkennung erfuhr. Er war immer ein Politiker, der Netzwerke zu anderen Ländern aufbaute. Er hat es geschafft, Westdeutschland innerhalb weniger Jahre zu einem – wenn auch eingeschränkt – souveränen Staat zu machen.
Die Demokratie wird häufig als Regierungsform bezeichnet, die vom Mehrheitsprinzip geprägt ist. Wir erleben gerade Populisten, die sagen, sie sprächen für das Volk oder für die Mehrheit – und das sei doch das einzig Demokratische. Was setzen Sie diesen Menschen entgegen, die so argumentieren?
Das ist eine sehr formale Betrachtungsweise der Demokratie. Aber eine Demokratie ist in erster Linie dann eine solche, wenn sie eine demokratische Substanz hat. Und diese Substanz ist nichts anderes als der Schutz von Minderheiten.
„Eine Demokratie ohne Minderheiten ist keine Demokratie, sondern wenn überhaupt eine Demokratur. Sie wird damit zur Herrschaft einer Mehrheit, die auf Kosten von Minderheiten Politik macht.“
Es ist das Schöne in einer Demokratie, dass wir Entscheidungen nicht ad hoc und von heute auf Morgen treffen, sondern ausdiskutieren. Wir haben immer eine Opposition und diese Opposition macht sich zur Aufgabe, gerade das, was Mehrheiten angeblich wollen, in Frage zu stellen. Mehrheiten können Recht haben, müssen es aber nicht.
Sie waren von September 2023 bis September 2024 Strafrichter am Landgericht in Karlsruhe, auch in der Großen Jugendstrafkammer. Jetzt sind Sie Vorsitzender des Jugendschöffengerichts. Wir erleben momentan gerade auch bei jungen Leuten einen starken Rechtsruck. Wie erklären Sie sich das?
Es gibt viele Ansätze. Ich glaube, dass die größte Problematik in dem Bereich darin zu sehen ist, dass vor allem rechtskonservative Kräfte – wenn nicht sogar rechtsextreme Kräfte – die sozialen Medien unter Kontrolle haben. Soziale Medien sind dafür sehr anfällig, weil Demokratie Zeit braucht, anders als vorgefertigte und vor allem auch sehr simple Erklärungsversuche darüber, wie die Welt funktioniert. Zeit bedeutet, dass man sich mit Themen inhaltlich wirklich auseinandersetzen muss, dass man nicht dem Bauchgefühl hinterherrennt. Und das ist in sozialen Medien schlicht und ergreifend nicht möglich.
Wie schaffen wir es dann, die jungen Menschen von dem zu begeistern, von dem wir so begeistert sind – nämlich von der Demokratie?
Indem wir sie dort abholen, wo sie sind. Die meisten jungen Menschen, selbst die, die vielleicht AfD wählen, haben es mit einer Wirklichkeit zu tun, die multikulturell ist. Man muss ihnen einfach bewusst machen, dass Offenheit genau zu dem führt, was sie cool finden. Wir haben eine solche Art von Globalisierung, dass es völlig absurd ist, wieder auf nationale Identitäten zu setzen.
„Demokratie ist die einzige Staatsform, die ihre Bürgerinnen und Bürger immer wieder erneut von sich überzeugen muss.“ Das hat unsere baden-württembergische Kultusministerin Theresa Schopper 2022 gesagt. Nehmen wir jetzt noch einmal die gesamte Gesellschaft in den Blick und gehen über Deutschland hinaus: Wie kann es gelingen, Menschen von dieser Staatsform zu überzeugen beziehungsweise sie wirklich für sie zu begeistern?
Auf der einen Seite sicherlich dadurch, dass man die Errungenschaften der Demokratie der letzten fünfzig bis sechzig Jahre in den Blick nimmt – vor allem was Freiheitsrechte angeht. Es gibt so viele Errungenschaften, die unsere Freiheit betreffen, welche ohne eine Demokratie niemals erreicht worden wären.
Aber auf der anderen Seite finde ich, dass die Demokratie das einzige politische System ist, was am besten das Menschenbild abbildet. Wir Menschen sind in der Natur das einzige Wesen, was in der Lage ist, Entscheidungen frei zu treffen.
„Freiheit beinhaltet die Möglichkeit von Fehlern.“
Und es gibt kein politisches System, jedenfalls kein totalitäres System, was von einem Menschenbild ausgeht, das „fehlerhaft“ ist. Wir gehen in einer Demokratie davon aus, dass der Mensch und damit auch eine aus Menschen gebildete Regierung Fehler machen können. Die Demokratie ermöglicht es allerdings, diese Fehler wieder rückgängig zu machen. In einer Demokratie haben wir sogar Systeme, die dazu da sind, Fehler, die die Regierung produziert, zu korrigieren. Wir haben Gerichte, die dritte Gewalt, die Justiz.
Es ist kein Zufall, dass totalitäre Gesellschaftsformen stets dazu tendieren, die Gerichtsbarkeit auszuschalten oder jedenfalls so zu schwächen, dass sie nicht mehr in der Lage sind, eben diese Fehler zu korrigieren. Eine Demokratie hingegen, geht mit Fehlern anders um, weil sie annimmt, dass keine Regierung perfekt sein kann. Es gibt keine ideale, also perfekt funktionierende Gesellschaft. Um Popper zu zitieren: Wer den Himmel auf Erden verspricht, der schafft nur eine Hölle.
Karlsruher Stimmen
Das Interview führte Stefanie Wally im November 2024. In der Reihe Karlsruher Stimmen lässt das Bündnis für Demokratie und Menschenrechte Karlsruhe Personen aus der Region zu Wort kommen, die aus einem ganz persönlichen Blickwinkel auf Demokratie und Menschenrechte schauen. Hier ist Platz für Meinungen und Diskussionen sind ausdrücklich erwünscht. Alle Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner eint der gemeinsame Einsatz für unsere Demokratie und die unumstößlichen Menschenrechte.