Als die Welt sich zum Guten veränderte
Ein persönlicher Blick auf den Mauerfall am 9. November 1989 von Stefanie Wally
Zur Person
Stefanie Wally, eine der Sprecherinnen des Karlsruher Bündnisses für Demokratie und Menschenrechte, hat diesen bedeutenden Moment in ihren Büchern Akte Luftballon und Rosa eindrucksvoll festgehalten. Beide Werke beleuchten die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts aus einzigartigen Blickwinkeln: der berührenden Perspektive zweier junger Mädchen und dem starken Lebensweg einer Frau.
Es gibt Tage, von denen weiß man auch nach Jahren, was man gerade gemacht hat, als etwas „Historisches“ passierte. Dass es historisch werden sollte, ahnte man vielleicht – aber dies zeigt sich meist erst nach einiger Zeit.
Wenn man Menschen meiner Generation fragt, wie sie den 9. November 1989 erlebt haben, dann stelle ich die steile These auf, dass sich ALLE noch genau an diesen besonderen Abend erinnern – denn an diesem Abend wurde Erhofftes und doch Unerwartetes Wirklichkeit.
Ich war damals 18 Jahre alt, wohnte in Dossenheim bei Heidelberg und saß – lernend für eine Politik-LK-Klausur mit dem Thema „USA und Sowjetunion – Systeme im Vergleich“ – in unserem Gästezimmer im Haus, in das ich vorübergehend gezogen war, weil meine Großmutter seit kurzem bei uns wohnte. Sie war pflegebedürftig, konnte sich nicht mehr selbst versorgen und lebte nun bei uns, in meinem Jugendzimmer.
»Steffie, schnell, komm mal runter!« , hörte ich meinen Vater im Wohnzimmer plötzlich laut schreien.
Erst einmal reagierte ich nicht so wirklich auf die Worte meines Vaters, als er aber rief »Ich mache keine Witze, entweder du kommst schnell runter, oder du schaltest deinen Fernseher an. Du wirst Augen machen!« hatte er doch meine Neugier geweckt. Da ich meine Omi im Nebenzimmer nicht noch mehr stören wollte, raste ich regelrecht die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Meine Eltern standen wie gebannt vor dem Fernseher, mein Vater legte nur den Finger auf den Mund, ohne die Augen vom Bildschirm abzuwenden, und nahm mich in den Arm.
Auf dem Bildschirm war ein dicklicher Herr mit Brille zu sehen, der eine Mitteilung verlas. Die Anzüge und die Umgebung ließen mich blitzschnell folgern, dass es sich um eine Aufnahme aus der DDR handeln musste.
»Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. […] Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu West-Berlin erfolgen.«
Man hätte eine Nadel fallen hören können, so angespannt ruhig war die Stimmung in unserem Wohnzimmer. Ein Journalist stellte aus einer der letzten Reihen die entscheidende Frage.
»Wann tritt das in Kraft?«
»Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich!«
Sofort, unverzüglich … Ein Raunen ging durch den Saal – Totenstille bei uns zu Hause. Ich erinnere mich daran, dass uns allen die Worte fehlten. Wäre es damals möglich gewesen, hätte ich den Beitrag aus der »Tagesschau« zurückgespult, um es mir noch einmal und immer wieder anzuhören und anzusehen. Ich wollte sofort meine Brieffreundin Anke aus der DDR anrufen, mit der ich im letzten Jahr immer wieder geschrieben und gesprochen hatte, wie sich die Situation in ihrem Land entwickelte und wir uns beide so sehr wünschten, dass diese Teilung unserer Länder einmal Geschichte sein mag. Ich wollte unbedingt sofort mit ihr telefonieren. Aber ein Durchkommen am Telefon war an diesem Abend unmöglich.
In der »Tagesthemen«-Ausgabe sahen wir sie dann: Die Bürger der DDR, die unbedingt austesten wollten, was es mit der Nachricht des Politbüros auf sich hatte. Immer mehr Menschen drängten in Berlin an den Grenzübergang Bornholmer Straße. Doch der Schlagbaum war sicher bewacht von Grenzern, die allerdings ihre Souveränität und Sicherheit etwas eingebüßt hatten. Es schien, als wüssten sie nicht, wie sie mit der Meldung umzugehen hatten. Sie warteten auf irgendeinen Befehl von oben, während die Menge immer größer wurde, anfing zu skandieren und gegen den Schlagbaum drängte.
Ich bewunderte die Leute. Denn trotz der Menschenmasse, trotz der gespannten Situation blieben alle friedlich. Es machte den Eindruck, als ob auch die Bürger der DDR nach wie vor auf das Signal von oben warteten. Doch dieses Signal kam nicht. Stattdessen konnten wir im heimeligen Wohnzimmer mit ansehen, wie sich die Grenzer miteinander besprachen und scheinbar in einer Art bewusster Kurzschlussreaktion das taten, worauf alle 28 Jahre gewartet hatten: Sie öffneten die Grenze.
Ich vergaß fast zu atmen, und Tränen liefen mir über das Gesicht, als ich die jubelnden und glücklichen Menschen sah, die direkt um ihre und in die Freiheit liefen. Zu dritt standen wir vor unserem kleinen Fenster zur Welt, unserem Fernseher, und konnten erleben, wie eine friedliche Revolution zum Erfolg führen konnte. Wir weinten, hielten uns an den Händen, bis wir von oben ein erbostes Rufen wahrnahmen. Omi hatten wir bei aller Euphorie völlig vergessen. Ich eilte zu ihr hinauf und drückte sie so fest, dass sie gar nicht wusste, wie ihr geschah.
Als ich ihr von den tanzenden und feiernden Menschen in Berlin erzählte, rannen auch bei ihr die Tränen. Sie erzählte mir von den „historischen“ 9. Novembern ihres 85-jährigen Lebens und welch ein Schicksalstag dieses Datum für die Deutschen doch war. Sie dachte an ihre Großmutter, wie sie sich 1918 über die Ausrufung der Republik gefreut hatte, und an ihre beiden jüdischen Nachbarinnen, die 1938 aus ihrem Haus vertrieben wurden. Wie schön, dass sie am Ende ihres Lebens diesen 9. November als Glückstag erleben und ich an diesem Freudentag 1989 Zeitzeugin sein durfte.